Der Gärtner im Winter

... sortiert Blumensamen und macht sich Gedanken über die Wunder der Natur

Was macht der Gärtner eigentlich im Winter? Nun ja, er sitzt in einem bequemen Lehnstuhl am offenen Kamin, neben sich auf einem Tischchen vielleicht eine Tasse Schwarzer Tee und ein Glas Remy Martin, hat warme Filzpantoffel an den Füßen und sortiert die Blumensamen vom zurückliegenden Sommer. Erst hat er sie sorgfältig eingesammelt, dann wochenlang trocknen lassen - jetzt entfernt er mit Pinzette und Lupe Blattreste und andere Verunreinigungen und füllt die Samenkörner in luftdichte schwarze Döschen, in denen früher Negativfilme aufbewahrt wurden. Darauf klebt er einen Zettel mit dem lateinischen und dem deutschen Namen.

Ab und zu guckt er auch ins Feuer und macht sich Gedanken über die Wunder der Natur. Es gibt kleine und große Samen, sehr kleine und sehr große und manche haben eine besonders seltsame Form. Die Samen der gelben Ringelblume (Calendula officinalis) zum Beispiel können mindestens vier verschiedene Gestalten annehmen. Es gibt kleine Kringel, gestreckte Bögen mit Zacken auf der einen Seite, gebogene Hörnchen und wieder andere, die eher wie Schaufeln aussehen. Und doch entsteht aus all diesen verschiedenen Samen immer die gleiche Pflanze!

Angeblich ist das ein Trick der Evolution, um die Verbreitung zu optimieren. Die leichteren Samen fallen weiter als die schweren, die kleinen Schaufeln werden vom Wind mitgenommen, die Haken bleiben am Fell von vorüberstreifenden Tieren hängen. So zumindest mal die Idee der Botaniker. Sehr hübsch sind übrigens auch die Früchte der pinkfarbenen Saat-Esparsette (Onobrychis viciifolia), ein schöner Schmetterlingsblütler, der in diesem Jahr zum ersten Mal auf einem mog61-Beet blühen wird. Sie sehen aus wie kleine braune, gezackte Muscheln aus dem Meer, haben mit dem Meer aber natürlich gar nichts im Sinn und sollen mit den Zähnchen nur irgendwo hängenbleiben und von Tieren verschleppt werden. "Klettausbreitung" nennt sich das wissenschaftlich.

Samen von Stockrosen (Alcea rosea) hat der Verein mog61 Miteinander ohne Grenzen e.V. so viele gesammelt, dass sie gar nicht mehr in Filmdöschen hineingehen. Es sind kleine braune Rädchen mit einem gekerbten Rand und bisher haben wir noch nicht zuverlässig herausgefunden, ob aus Samen von roten Malven auch wieder rote Blumen wachsen oder nicht vielmehr gelbe, weiße oder rosafarbene. Da sind auf den Spuren von Gregor Mendel noch weitere Forschungen nötig. In den runden Samen verbergen sich oft Langrüsselige Stockrosen-Spitzmäuschen (auf dem Foto nicht sichtbar) und man muss aufpassen, dass die lästigen Schädlinge nicht die Samenvorräte plündern.

Die Größe und Form der Samen hat übrigens nichts mit der Größe der späteren Pflanze zu tun. So bildet eine mächtige, bis zu zwei Meter hohe Großblütige Königskerze (auch bei mog61 zu bewundern) bis zu 60 000 winzige Samenkörner. Auch der bekannte rote Klatschmohn (Papaver rhoeas), eine unserer absoluten Lieblingsblumen, produziert in seiner leuchtturmartigen Kapsel sehr viele winzige Samenkörner. Wie die Königskerze ist er darauf angewiesen, sich jedes Jahr neu auszusäen.

Wie groß wirken hingegen die langgestreckten Früchte des ausdauernden Wiesen-Bocksbarts (Tragopogon pratensis), die im Original-Zustand ähnlich dem Löwenzahn kleine Schirmchen für den Wind besitzen, einen sogenannten Pappus. Wieder guckt der Gärtner eine Weile ins Feuer. Warum haben im Laufe der Evolution einjährige und zweijährige Pflanzen überhaupt überlebt, fragt er sich, obwohl sie nur kurze Zeit existieren und gegenüber den ausdauernden, den Stauden, doch deutlich benachteiligt sind?

Warum passt in ein winziges Mohnblumen-Samenkorn die genetische Information genauso hinein wie in ein viel größeres Ringelblumen-Ding? Warum gibt es überhaupt Blumen und nicht nur Bäume? Und was ist das überhaupt: das Leben? Irgendwann muss ich einmal einen Text schreiben mit dem Titel: Über die Sonnenblume, denkt er noch. Und dann merkt er plötzlich, dass die Flasche mit dem Cognac tragischerweise längst leer geworden ist.